Editorischer Hinweis

Wir wiederveröffentlichen hier einen inzwischen urheberrechtsfreien Erlebnisbericht Franz Gergers von seiner Fahrt auf den dritten Platz während der ersten Distanzradfahrt 1893. Der Bericht wurde ursprünglich 1936 von Franz Röschel in der Zeitschrift ‚Der Radfahrer‘ publiziert.

Distanzfahrt Wien-Berlin

Von Franz Röschel

Der Aufsehen erregende Distanzritt Wien-Berlin eines schneidigen Reiteroffiziers anfangs der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts rief den Ehrgeiz der gesamten Radfahrerschaft wach. Man war der Meinung, daß ein schneidiger Radfahrer diese Distanzfahrt in weit kürzerer Zeit zuwegebringen müßte. Und so kam es, daß die hervorragende Leistung eines Reiters zur Distanz-Radfahrt „Wien—Berlin“, deren Start in Floridsdorf erfolgte und die für den Juli 1893 um 6 Uhr morgens ausgeschrieben war, Veranlassung gab. Zu diesem Rennen liefen 156 Nennungen ein, gestartet waren 112 Fahrer, darunter die großen, berühmten Kanonen Lehr und Fischer. 

Unter den startenden Oesterreichern fiel ein unbekannter, bescheidener Rennfahrer auf, in armseligem, dünnem, schwarzem Trikot mit kurzem Kautschuk-Regenmantel, der sowohl gegen Regen, als auch gegen Kälte Schutz bieten sollte, dieser Aufgabe aber keinesfalls entsprach. Dieser unbekannte Fahrer benützte ein Styria-Tourenrad mit elyptischem Kettenrad auf 63 übersetzt. Also Mann und Rad der großen Sportwelt unbekannt. — „Wer ist der Mensch?“ „Genannt hat er unter Franz Gerger“ — „Gerger?“ Niemand kannte ihn. „Von wo ist der Neuling?“ — „Steiermark.“ „Welcher Klub?“ — „G. R. V. Wanderlust.“ „Armer Kerl, da hat er wohl wenig Unterstützung zu erwarten!“ — „Hätte besser getan, wenn er zu Hause geblieben wäre.“ So und ähnlich dachten die meisten Rennfahrer, einige sagten es sogar. Unter den „Einigen“ waren auch Grazer. Nur unser aufrechter, grundehrlicher Max Kleinoscheg gab dem gedrückten Mann gute Worte und mit ihnen ein Stück seines sportgetreuen Herzens mit auf den Weg!

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Gerger schreibt in seinen Vormerkungen: „Als ich kurz vor der Abfahrt am Start in Floridsdorf meine Unterschrift gegeben hatte, kam der Altmeister, Herr Max Kleinoscheg zu mir und sagte: Gerger, Sie sind doch das Bergfahren gewohnt, fahren Sie auf die böhmischen Berge recht drauf los! Suchen Sie für uns Grazer Ehren nach Hause zu bringen!“ Meine Antwort darauf war: ,Ich werde alle meine Kraft in Anspruch nehmen und mein Möglichstes tun, um den Steirern und Grazern Freude zu machen!‘ — Und dann ging die Fahrt los. Wir starteten in Intervallen von 5 Minuten in Gruppen von 10 Mann. Meine Gruppe startete pünktlich um 6.30 Uhr.“ Und nun wollen wir dem freundlichen Leserkreise Gergers Vormerkungen über diese Distanzfahrt in gekürzter Form bringen: „Meine Renndress war für die lange Strecke nicht geeignet, ich konnte aber nichts mehr machen, weil meine andere Dress mein lieber Vereinskollega, Herr Gottlieb Sorg, mit der Bahn nach Berlin mitnahm. Mir gelang es, an die Spitze zu kommen, nach etwa 8 km war ich schon — die Gruppe von 9 Fahrern zurücklassend — vorne allein. Nach 10 km hatte ich einen Konkurrenten aus einer der ersteren Gruppen überholt. In Stockerau habe ich weitere drei Fahrer überholt und so ging es fort bis zur I. Kontrolle Znaim, 81 km. Fahrzeit 3 :33. Nach der Eintragung ging es ohne Aufenthalt weiter. Die Straße stieg andauernd bis 20 km vor Iglau. Znaim — Iglau 74 km. Fahrzeit 4:37. Hier habe ich mich gestärkt und die Kontrolle Iglau als 22. Rennfahrer verlassen. Die III. Kontrolle war Kolin, 81 km. Zwischen Iglau und Kolin ist es ziemlich bergig. Auf dieser Strecke, in der Nähe von Deutsch-Brod, ist mir der erste Rennfahrer einer späteren Gruppe vorgefahren. Es war August Lehr, der beste deutsche Rennbahnfahrer. Er fuhr in Begleitung einiger Wiener; ich ließ mich nicht verleiten und blieb bei meinem gleichmäßigen Tempo. Nach einer halben Stunde kam ich an einem Gasthause vorbei, die Straßen wache tief mir den Namen „Lehr“ zu. Erst später erfuhr ich, daß sich Lehr durch schnelle Fahrt in der Hitze ausgepumpt hatte, auch hätte er, so meinten einige Mitfahrer, zu tief in das Weinglas geschaut, daher war ein kurzes Ausruhen notwendig. 5 km vor Kolin holte ich einen Berliner ein, der mich aber in Kolin fluchtartig verließ. Ankunft in Kolin 7:19. Gesamte Kilometeranzahl 236. Nach einem Aufenthalte von 15 Minuten ging es flott weiter. Außer Kolin kam mir ein furchtbares Gewitter entgegen. Es wurde stark finster. Ich stieg ab und zündete meine Oellampe an, nahm den Regenmantel um und fuhr weiter. Und schon war ein wolkenbruchartiger Regenguß da. Meine dünne Bekleidung war trotz des Regenmantels im Nu gänzlich durchnäßt, das Wasser rann mir beim Halse ein und bei den Schuhen heraus, selbst das Licht hat mir der Regen ausgelöscht.

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Nun konnte ich aber kein Licht machen, weil die Zünder ganz naß und unbrauchbar wurden. Ich war also gezwungen in der Finsternis weiter zu fahren. Ich habe mich aber bald an das lichtlose Fahren gewöhnt, doch ich mußte — wie die Fahrzeit beweist — vorsichtiger fahren. Ich fuhr in diesem schrecklichen Unwetter ins Ungewisse, da blinkt vor mir ein Licht auf, es war die Straßenwache, 2 km vor Jung-Bunzlau.

Auf der ganzen 53 km langen Strecke Kolin—Jung—Bunzlau traf ich außer dieser Straßenwache keinen Radfahrer. Zu meiner Freude erfuhr ich, als ich die Kontrolle Jungbunzlau um 10 Uhr passierte, daß ich der Neunte bin. Fahrzeit 3:19.

Dort nahm ich ein zweites Nachtmahl, es war ein Ramsteak mit Spiegelei, 1 Brot, 1 Achterl Wein. Mein teuerstes Essen auf der ganzen Tour; ich zahlte für dieses Nachtmahl über 9 Gulden! Nach 14 Minuten ging ich die Fahrt doppelt gestärkt wieder an. In 3:16 erreichte ich Petersdorf (Grenze), 52 km. Es war 2 Uhr 23 Minuten nachts, meine Grenzabfertigung war in 4 Minuten erledigt. Nachdem ich hier zwei Fahrer einholte und auch hier wieder zurückließ, ging ich als Siebenter einen steilen Berg an. Da kam mir aber ein zweites schweres Wetter unter Donner und Blitz entgegen. Bergan hat mir das überaus schwere Wetter weniger gemacht, doch bergab haben mich die Blitze stark irritiert. Die fahlen starken Blitzentladungen waren fürchterlich und unheimlich, ich hatte immer das Gefühl, der nächste Blitzstrahl müsse mich und mein Rad treffen. Ich hatte deshalb mein Tempo ziemlich mäßigen müssen. Nun war ich zum zweitenmal bis auf die Haut naß, kaum trocken von der ersten Taufe, mußte ich die zweite empfangen. Als es tagte, war das Wetter verschwunden, ein herrlicher Tag begann und mit ihm die schöne Straße!

Die VI. Kontrolle passierte ich um 8:57. Gesamtkilometer 447. Hier traf ich wieder zwei Fahrer im Zimmer liegend, die eben massiert wurden. Nach 13 Minuten fuhr ich als Fünfter weiter und kam um 2 Uhr 4 Minuten in der VII. Kontrolle Baruth an.

Zu diesen 63 km brauchte ich 4:56. Gesamtkilometer 530. Hier war ich von der doppelten Durchnässung vollkommen trocken und nahm nur einen schwarzen Kaffee. Als ich in die Station einfuhr, wurde diese gerade von zwei Rennfahrern, Reheis und Andersehn, verlassen.

Nach vier Minuten ging es wieder weiter und den beiden nach. Noch 53 km hatte ich zu treten und Berlin war endlich erreicht! In Baruth hatten sich mir Berliner angeschlossen, mir Mut zugesprochen und es ging in gutem Tempo weiter, so daß ich nach 30 km den beiden Konkurrenten, die Baruth vor mir verließen, auf der Ferse war. Ich versuchte den beiden vorzufahren, aber es ging nicht. Ich erfuhr von den Berlinern, daß wir zum Ziel nur 12 bis 15 km haben, da bot mir feiner vom Rade her einen Becher Milch mit Kognak. Ich trank die Milch in einem Zuge aus und empfand sofort, daß ich mehr Kognak als Milch genossen habe, ich fühlte auch eine momentane Stärkung aller Glieder.

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Nun versuchte ich ernstlich mich von den beiden loszureißen, was mir auch wirklich gelang. Dieses Getränk hat mich wohl für den Moment gestärkt, wäre aber Berlin nicht schon in der nächsten Nähe gewesen, hätte ich es gerade wegen diesem Getränk nicht erreicht. Da kam zum Ende der Fahrt auch noch das Berliner Katzenkopfpflaster, auf dem ich hin und her voltigierend die fahrbaren Stellen erst suchen mußte. Als ich wieder einmal vom Straßenpflaster meinen Blick in die Ferne gleiten ließ, bemerkte ich auf der Strecke draußen eine große Menschenansammlung. Kurz darauf erreichte ich diese, es war 4 Uhr 52 Minuten nachmittags.

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Ein himmlisches Gefühl bemächtigte sich meiner, als ich als Dritter und als erster Österreicher im jubelnden All Heil-Gruße das Zielband in Berlin überfuhr! — Nachdem die später startenden Konkurrenten meine Fahrzeit nicht erreicht haben, wurde ich bei der Distanzfahrt Wien—Berlin als Dritter mit 582 km in 34 :22 offiziell bestätigt.“

Literatur

Quellennachweise:

Frank Röschel: Distanzfahrt Wien-Berlin. In: Der Radfahrer 70, 30. Juni 1936, S. 3-4

Abbildungsnachweise:

ABB 1: Das Interessante Blatt 12/27, 06. Juli 1893

ABB 2:

Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann
29.1894

ABB 3:

Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann
29.1894

ABB 4: Illustrierte Zeitung 101/2810, 8. Juli 1983